Tag der Pflege: Interview mit dem Leiter der Stabsabteilung Altenhilfe

Selbstbestimmung ist ein Qualitätskriterium

Selbstbestimmt: In stationären Altenhilfe-Einrichtungen werden individuelle Wünsche berücksichtigt, hat Selbstbestimmung einen hohen Stellenwert. Foto: Pia Blümig

Peter-Christian König ist Leiter der Stabsabteilung Altenhilfe im Ev. Johanneswerk und hat vielfältige Praxis-Erfahrungen – auch als Hausleiter von stationären Alteneinrichtungen. Foto: Hilla Südhaus

Alter und Krankheit können Grenzen setzen, die der betroffene Mensch im Alltag als sehr einschränkend wahrnimmt. Häufig wird der Rahmen für ein selbstbestimmtes Leben dann enger, sinken die Möglichkeiten der freien Entscheidung. Die Pflege-Charta hat in acht Artikeln festgelegt, welche Rechte hilfe- und betreuungsbedürftigen Menschen zustehen. Sie appelliert damit an alle Akteure in der Pflege, ihr Handeln daran auszurichten. Konkret: Die Pflege – ob ambulant oder stationär – soll einerseits die bestmögliche Versorgung sichern und andererseits individuelle Wünsche berücksichtigen. Zum „Tag der Pflege“ beschreibt Peter-Christian König, Leiter der Abteilung Altenhilfe im Ev. Johanneswerk, wie sich dieser Anspruch umsetzen lässt.

? Gut versorgt und selbstbestimmt: Sind das Gegensätze?


Im Gegenteil! Für uns im Johanneswerk gehören die Berücksichtigung von Autonomie und Selbstbestimmung zu Qualitätskriterien für eine gute Versorgung. Das heißt, erst wenn ich als Pflegekraft diese Aspekte bei der Betreuung und Pflege alter Menschen mit in den Blick nehme, kann ich wirklich von einer guten Versorgungs-Situation sprechen.

? Kollidiert Selbstbestimmung mit den Vorgaben der Pflegeversicherung und dem System der Pflegegrade?

Dieses neue Begutachtungsinstrument setzt gerade explizit auf Formen und auf Bewertung der Selbständigkeit. Früher wurden Unterstützungsleistungen bei der Mobilität, der Körperpflege, der Ernährung in Minutenwerten erfasst.

Heute berücksichtigen und bewerten Kriterien die Fähigkeiten zur Selbstversorgung, der Kommunikation und des Erfassens und Wahrnehmens  bei der Gestaltung des Alltagslebens und der sozialen Kontakte. In den Mittelpunkt der Betrachtung rückt das Kriterium, wie autonom und selbständig der alte, pflegebedürftige Mensch sein Leben gestalten kann.

? Haben Mitarbeitende in der Altenpflege Spielräume, um individuelle Wünsche zu berücksichtigen?

Seit 1995 haben sich in der stationären Altenpflege die Pflege- und Betreuungsschlüssel im Grunde überhaupt nicht verändert und verbessert. Gleichzeitig ist der Pflegebedarf in den Einrichtungen gestiegen und die Menschen, die zu uns kommen, haben in der Regel mehrfache Erkrankungen oder sind dement. Das bedeutet: Im stationären wie auch im ambulanten Bereich findet Pflege unter einem erheblichen Zeitdruck statt.

Andererseits ist es so, dass es Lebensbereiche gibt, in denen die zur Verfügung stehenden Spielräume wenig mit Zeit zu tun haben. Die Auswahl der Kleidung, die dem Geschmack der Bewohnerin, des Bewohners unterliegt, die Frage, was möchte sie oder er essen, wie das Zimmer einrichten, hängt wenig von der Zeittaktung ab. Außerdem glaube ich, dass im stationären Bereich die Berücksichtigung individueller Bedürfnisse und Wünsche auch zu einer Entzerrung von Arbeitsabläufen führt. Nicht alle Bewohner wollen zur gleichen Zeit gewaschen und angezogen werden oder zur gleichen Zeit Ihre Mahlzeiten einnehmen.
 
? Stößt die Selbstbestimmung an Grenzen, zum Beispiel, wenn es um Pflege von Menschen mit Demenz geht?

An die Grenzen von Selbstbestimmung und damit oft auch an schwierige ethische Fragestellungen geraten wir immer dann, wenn es um den Aspekt der Selbst- oder Fremdgefährdung geht. Insbesondere in der Beurteilung, welches Verhalten selbstgefährdend ist und an welchen Stellen wir diesem Verhalten begegnen müssen oder sollten.

Wir wissen, dass ein Pflegeplan auch ein Terrorinstrument sein kann, wenn die Pflegefachleute alle vermeintlich pflegerisch guten Ansätze gegenüber einem Menschen durchsetzen möchten, dessen Lebenswille möglicherweise erschöpft ist, der sich innerlich auf den Tod vorbereiten möchte. Aber gerade bei Fragen der Nahrungsaufnahme, der Medikamenten-Verabreichung in Endphasen des Lebens, stoßen wir immer wieder auf den Punkt, an dem sehr gut abzuwägen ist: Was ist der wirkliche oder vermeintliche Wunsch, wann würden wir uns einer unterlassenen Hilfeleistung schuldig machen?

? Das Ev. Johanneswerk ist Träger von zwei Fachseminaren für Altenhilfe in Ostwestfalen-Lippe. Sind Werte wie Selbstbestimmung und Würde auch Ausbildungs-Themen?


Wir versuchen, in unseren Fachseminaren die Teilnehmer für die unterschiedlichen Lebenslagen und -stile und auch die Biografien der von uns betreuten alten Menschen zu sensibilisieren. Aus Biografie und Lebensstil resultieren in der Regel auch sehr unterschiedliche Bedürfnisse der Menschen.

Wir fordern unsere Teilnehmer dazu auf, die Einzigartigkeiten, die biografischen Merkmale und erlebten Erfahrungen der alten Menschen zu berücksichtigen und ihnen und ihren Eigenarten würdevoll zu begegnen. Das kann auch die kleinen Dinge des Lebens betreffen. Eine Pflegekraft  muss akzeptieren, dass ein alter Mensch ihren Lebensstil möglicherweise misstrauisch betrachtet. Oder dass ein 90-Jähriger einen anderen Musikgeschmack hat als ein 30-Jähriger.

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