Bochum: Vier junge Frauen mit Assistenzbedarf leben zusammen in einer Wohngemeinschaft

WG mit Rückendeckung

Vorbereitung für das WG-Abendessen: Rebecca Bonk, Carina Lagemann und Lisa Oberberg (v. l.) holen Tomaten aus ihrem Gewächshaus. Fotos: Frank Elschner

Es ist kurz nach 16 Uhr, als sich im Türschloss zum dritten Mal ein Schlüssel dreht. „Bin da“, ruft Lisa Oberberg. Ihre Mitbewohnerinnen Rebecca Bonk und Carina Lagemann sitzen bereits in der Wohnküche und spielen Skip-Bo – ein Kartenspiel. Nur Joy Forin ist noch unterwegs, sie muss heute länger arbeiten. Wenn alle da sind, wollen sie zusammen Abendbrot essen. Den Plan dafür haben sie schon am Wochenende erstellt. Doch sie brauchen noch eine fünfte Person, um ihn in die Tat umzusetzen: Amelie Kouth, ihre Assistentin vom Johanneswerk, die im Büro direkt gegenüber arbeitet.

Die vier Frauen wohnen zusammen in einer modernen Wohnung im Zentrum von Bochum. Ihr Zuhause ist Teil der sogenannten Claudius-Höfe, einem inklusiven Wohnprojekt für Menschen mit und ohne Beeinträchtigung. Innerhalb des Projekts bietet das Johanneswerk Assistenz für insgesamt vier Wohngemeinschaften. Die von Rebecca, Lisa, Carina und Joy ist eine davon. Alle vier sind berufstätig: Rebecca und Joy arbeiten in Dortmund in einer Pflegeeinrichtung, Lisa ist in einer Werkstatt für Menschen mit Behinderung tätig und Carina kümmert sich nebenan im Hotel Claudius um die Reinigung der Zimmer. Damit das weiterhin reibungslos klappt und sie alle nebenbei ihren Alltag bewältigen können, erhalten die Frauen bedarfsorientierte, ambulante Unterstützung. 
 

"Sie müssen sich ständig rechtfertigen"

Zusammen mit ihrer Assistentin bereitet die WG das Abendessen zu, dabei sprechen sie über den Tag. Thematisiert wird alles: Stress bei der Arbeit, schöne und lustige Momente, aber auch Konfliktsituationen – in der WG und außerhalb. Dass die vier Frauen geistig beeinträchtigt sind, ist ihnen nicht anzusehen. „Im Alltag führt das häufig zu Problemen, weil ihnen unterstellt wird, dass sie Dinge können, die ihnen in Wirklichkeit Probleme bereiten“, erklärt Amelie Kouth.

Als Beispiele für kritische Situationen nennt sie die Nutzung eines Geldautomaten, aber auch die Notwendigkeit, beim Amt eine Nummer zu ziehen und den richtigen Schalter zu finden. „Unsere Klient*innen müssen sich dafür rechtfertigen, dass sie etwas nicht können und ihrem Gegenüber klar machen, dass sie geistig beeinträchtigt sind“, so Kouth . Das sei für viele Betroffene eine äußerst unangenehme Erfahrung. Um Strategien für solche Situationen zu entwickeln, besprechen die WG-Mitglieder diese Alltags-Herausforderungen mit den Assistent*innen des Johanneswerks.

Ansprechpartner*innen für Konflikte

Ergänzend dazu fungieren dessen Mitarbeiter*innen auch als Ansprechpartner*innen für Konflikte ganz anderer Art. „Wenn mehrere Menschen in einer Wohnung zusammenleben, gibt es immer Potential für Konflikte – dafür braucht es keine geistige Beeinträchtigung“, betont Bereichsleiterin Svea-Maria Hielscher, die das Assistenzbüro leitet. Streit untereinander oder mit den Eltern, weil die ganz andere Vorstellungen vom Leben hätten als das erwachsene Kind – all das seien eigentlich normale Probleme – aber bei Menschen mit geistiger Beeinträchtigung würden sie sich oft noch stärker bemerkbar machen, weil die Voraussetzungen andere seien. Auch aus diesem Grund hätten sie  eine Schlafbereitschaft eingeführt. Hielscher: „Dadurch steht für die WGs und unsere Einzelklienten rund um die Uhr ein Ansprechpartner zur Verfügung.“

Lisa, Rebecca, Carina und Joy nutzen dieses Angebot – nicht immer, wie sie betonen, aber dann, „wenn’s richtig kracht und wir das nicht alleine schaffen.“ Abseits großer Krisen unterstützen die Assistent*innen ihre Klient*innen aber auch bei ganz alltäglichen Tätigkeiten: Post leeren und bearbeiten, Essens- und Putzpläne aufstellen, Einkäufe planen oder einfach die zeitliche Organisation der Freizeit. Den vier WG-Frauen ermöglicht dieses bedarfsorientierte Angebot, selbstbestimmt zu wohnen, ohne dafür in eine besondere Wohnform, also eine stationäre Einrichtung ziehen zu müssen.

Sie genießen die Vorteile und Freiheiten, die mit der ambulanten Unterstützung einhergehen. Doch während Lisa, Rebecca und Carina mit der Zeit festgestellt haben, dass sie „totale WG-Typen“ sind, hat Joy etwas anderes über sich gelernt. Sie möchte mehr Zeit für sich haben, und mehr Zeit für ihren Freund. Deshalb will sie ausziehen. In eine eigene Wohnung – wenn möglich, wieder in den Claudius-Höfen und mit ambulanter Unterstützung ihrer Assistent*innen.

 

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