Umfangreiche Reform sichert Menschen mit Behinderung mehr Selbstbestimmung
Weitsprung in die Teilhabe
Das gesamte Reformpaket ist so umfangreich, dass die Umsetzung stufenweise erfolgt. Weil vieles vollkommen neu geregelt wird, arbeiten Behörden und Institutionen der Wohlfahrtspflege seit zwei Jahren mit Hochdruck daran. Denn seit dem 1. Januar 2020 gilt es: Alle Menschen mit Beeinträchtigung sollen ihr Recht auf Teilhabe leben können.
Noch in den 1980er Jahren war der Begriff ‚Fürsorge‘ üblich, wenn es um die Betreuung hilfebedürftiger Menschen ging. Da schwang immer auch die Einstellung mit, dass Betreuer und Pflegekräfte am besten wissen, was denjenigen gut tun würde. Das hat sich grundlegend gewandelt: Die Betroffenen entscheiden selbst und fordern – wenn nötig unterstützt von gesetzlichen Betreuern oder Assistenten – ihre Vorstellungen ein. Durch das Bundesteilhabesetz (BTHG) soll die Normalität Einzug halten. Bislang wurde die Umsetzung des BTHG, seit Jahrzehnten eine der umfangreichsten Sozialreformen, in der Öffentlichkeit wenig wahrgenommen.
„Wir erleben jetzt eine der umfassendsten gesetzlichen Veränderungen mit Auswirkungen in ganz vielen Alltagsbereichen“, betont Daniel Schuster, Leiter der Stabsabteilung Behindertenhilfe im Johanneswerk. Das sei mit einem Riesenschritt nach vorn noch unzureichend beschrieben, eher gleiche es – um ein Bild aus dem Sport zu verwenden – einem Weitsprung und gleichzeitigem Hürdenlauf. Rund 720 Männer und Frauen mit Beeinträchtigungen leben in stationären Einrichtungen des Johanneswerks, sind von den Veränderungen direkt betroffen und sollen natürlich davon profitieren.
Stärkung und Bestärkung
Teilhabe am sozialen und beruflichen Leben klingt einfach – und das soll es für Menschen mit Behinderung auch sein. Ihre individuellen Bedürfnisse sollen deutlich in den Focus ihres Umfelds rücken, und allen voran in den Focus der Assistenten und Pflegekräfte. Es geht dabei um Stärkung und Bestärkung, darum selbst zu bestimmen und dies auch einfordern zu dürfen. Die Basis wurde mit dem BTHG geschaffen, das sich wiederum an der UN-Behindertenrechtkonvention orientiert. Im besten Falle leben die Betroffenen schon in einer Situation, in der es ihnen gut geht und sie sich wohlfühlen. Sozialpädagogische Fachkräfte, Heilerziehungspfleger und andere Bezugspersonen in den Johanneswerk-Wohnverbünden haben sich in den zurückliegenden Jahren bereits dafür engagiert.
Doch das neue Gesetz sorgt mit seinen Reformen für dicke Aufgabenpakete in den Behörden und Organisationen. Das Finanzierungskonzept für diejenigen, die in den heute stationären Einrichtungen leben, wurde umfassend verändert. Während der Landschaftsverband Westfalen-Lippe weiterhin die sogenannten Fachleistungen (Assistenzen, Unterstützung im Alltag, etc.) übernimmt, fallen die Miete und die Hilfe zum Lebensunterhalt (Ernährung, Kleidung, hauswirtschaftliche Dienstleistungen) in den Zuständigkeitsbereich der kommunalen Sozialämter. Für viele dieser Leistungen müssen nun einzelne Verträge abgeschlossen werden und die Leistungserbringer – also Mitarbeitende des Ev. Johanneswerks müssen sich selbst um die Abwicklung kümmern. Zur Sicherheit wird der Landschaftsverband Westfalen-Lippe in einer Übergangsphase am alten System festhalten und die Leistungen zunächst weiter bezahlen.
Tipps im BTHG-Ratgeber
Da auf Angehörige und gesetzliche Betreuer viele neue Aufgaben zukommen, stellt das Johanneswerk eine dicke Info-Broschüre zur Verfügung – einen ‚BTHG Ratgeber‘. „Die Angehörigen, vor allem wenn es um ältere Personen geht, sind vielfach unsicher, was sie alles beachten müssen“, macht Daniel Schuster deutlich. Und lässt keinen Zweifel daran, dass die neuen Bestimmungen für Laien eine große Umstellung bedeuten.
Landauf, landab ist auch zu beobachten, dass sich immer mehr Angehörige an die Amtsgerichte wenden und nach gesetzlichen Betreuern fragen. Auch deren Verantwortung für diesen Mandantenkreis wächst, und auch ihr Arbeitsaufwand wird aufgrund der zunehmenden Bürokratie steigen. Der Wechsel von der Komplett-Übernahme aller Betreuungs- und Pflegekosten hin zu Einzelverträgen für Dienstleistungen hat zur Folge, dass zunehmend Anträge für Leistungen zu stellen sind. Bei einer Ablehnung müssen nun die gesetzlichen Betreuer initiativ werden und ihren Widerspruch in jedem einzelnen Fall einlegen.
Neuer Behindertenbegriff
Menschen mit Behinderung sind Menschen, die körperliche, seelische, geistige oder Sinnesbeeinträchtigungen haben, die sich in Wechselwirkung mit einstellungs- und umweltbedingen Barrieren an der gleichberechtigten Teilhabe an der Gesellschaft mit hoher Wahrscheinlichkeit länger als sechs Monate hindern können.
Landschaftsverband - was ist das?
Der Landschaftsverband ist eine Einrichtung der kommunalen Selbstverwaltung. Finanziell ausgestattet mit einer Umlage der Kreise und kreisfreien Städte und Landeszuschüssen, übernimmt der Landschaftsverband die Trägerschaft für überörtliche Sozial-, Behinderten- und Jugendhilfe und bedeutende soziale Einrichtungen. Der Landschaftsverband Westfalen-Lippe hat seinen Sitz in Münster, der Landschaftsverband Rheinland in Köln. Nordrhein-Westfalen ist das einzige Bundesland, in dem zwei Landschaftsverbände wichtige öffentliche Aufgaben übernehmen.
Arbeitsfeld Behindertenhilfe
Das Ev. Johanneswerk bietet in sieben Wohnverbünden eine ganze Palette an Wohn- und Betreuungsformen. Die Zahl der Bewohnerinnen und Bewohner in stationären Einrichtungen und die Zahl der ambulant unterstützten Klientinnen und Klienten (mit rund 770 Personen) hält sich die Waage. Zum Bereich Behindertenhilfe Arbeit werden schwerpunktmäßig im Raum Bochum und im Märkischen Kreis unter dem Namen Studjo Betriebsstätten an acht verschiedenen Standorten betrieben.
Stichtag 1. Januar
Für die Nutznießer des BTHG, die Menschen mit Beeinträchtigung, wählte der Landschaftsverband Rheinland (LVR) Anfang des Jahres einen guten Informationsweg. Der Verband hatte einen Brief an die derzeitigen Leistungsempfänger verschickt, den es auch in einer Fassung ‚Leichte Sprache‘ gab. Auf nur drei Seiten, angereichert mit Piktogrammen, wird darin das Wichtigste erklärt.
Die Fachleute in der Behindertenhilfe schauen mit gemischten Gefühlen auf den Stichtag 1. Januar 2020 und die künftigen Abwicklungen im Bereich Verwaltung und Finanzen. Erst nach Inkrafttreten der Reformen in Stufe 3 wird sich zeigen, wie tragfähig die Richtlinien in der Praxis sind und wie schnell alle Behörden den Wechsel hinbekommen.