Vorsitzender der Geschäftsführung Pastor Dr. Ingo Habenicht geht in Ruhestand

6.001 Tage an der Spitze des Johanneswerks

Genau 6.001 Tage liegen zwischen dem ersten Arbeitstag von Ingo Habenicht im Johanneswerk und seiner offiziellen Verabschiedung. 16,5 Jahre lang hat der Theologe die Geschicke des großen Trägers mit 7.500 Mitarbeiter*innen in ganz NRW entscheidend mitgeprägt. Im Interview spricht Habenicht über Herausforderungen, das Duzen und über die Abgabe von Verantwortung.

 

6.001 Tage im Werk: Was geht dir durch den Kopf geht, wenn du diese Zahl hörst?

Das ist eine lange Zeit: 16,5 Jahre. Tatsächlich ist es die längste Zeit an einem Arbeitsplatz in meinem Leben – sonst war ich überall maximal sieben Jahre. Als ich mich hier beworben habe, war mir das irgendwie klar: Wenn ich die Stelle bekomme und es für alle passt, dann möchte ich bis zum Rentenalter bleiben.

 

Was hast du dir am Anfang vorgenommen?

Erstmal hinzusehen, Eindrücke und Kontakte zu gewinnen. Ich hatte damals die Zeit, ausnahmslos alle Einrichtungen im Werk zu besuchen und bewusst hinzuschauen.

 

Und? Wie war dein Bild?
Das Johanneswerk habe ich von Anfang an als sehr groß und sehr modern erlebt. Als tollen, innovativen Träger, der auch Dinge vorantreibt, an die andere sich noch nicht heranwagen.

 

Ist das auch immer noch das Bild, das du vom Johanneswerk hast?
Ja, einerseits schon. Durch meine Verbandstätigkeit kenne ich sehr viele diakonische Träger, große und kleine – und ich finde nach wie vor, dass das Johanneswerk sehr am Puls der Zeit ist. Andererseits habe ich im Laufe der Zeit natürlich auch die Schwierigkeiten, Probleme und falschen Weichenstellungen erkannt.

 

Was war in den 16,5 Jahren die größte Herausforderung?
Dass die soziale Arbeit so knapp finanziert und schnell defizitär ist. Die ständige Anstrengung darum, einerseits genügend Geld zu bekommen, und andererseits auch nicht mehr Geld auszugeben, als wir bekommen. Mittlerweile kommt dazu, genug gut qualifizierte und motivierte Mitarbeitende zu finden und zu behalten. Beides, Finanzen und Personalmanagement, haben wir bislang aber immer gut hinbekommen.

 

Welche besonderen inhaltlichen Spuren hast du hinterlassen?
Eine erste war sicher die Einführung eines neuen Logos. Außerdem die Neugestaltung unserer jährlichen Jahrestagung. Dann sicher die Gründungeiner Stabsabteilung Theologie und Diakonie. Die Etablierung unseres Management-Dreiecks, also einer ausgewogenen Entscheidungsfindung zwischen fachlichen, ökonomischen und theologischen Aspekten. Auch unsere Vision, Mission und Interaktion sind unter meiner Verantwortung und meinem ständigen Mitwirken entstanden, darauf bin ich stolz. Ein Strategieprozess mit unseren Kliniken. Oder noch recht frisch: Die Einführung einer eigenen Abteilung für das Recruiting.

 

Du hast das „Kulturelle Du“ eingeführt. War das auch so eine Spur?
Ja, das habe zu einem großen Teil selbst initiiert und geprägt. Durch das „Du“ ist natürlich die Hierarchie nicht weg. Aber es entsteht eine Begegnung auf Augenhöhe. Es verändert sich klimatisch etwas. Inzwischen ist es im Werk recht weit verbreitet.

 

Du hast regelmäßig in Einrichtungen des Werks hospitiert. Warum?

Bei einem Besuch in einer Alteneinrichtung sagte mal jemand zu mir: „Sie müssen mal eine ganze Woche kommen, damit Sie wirklich sehen, was hier los ist.“ Das habe ich dann tatsächlich gemacht und alle zwei Jahre in den Sommerferien in einer Einrichtung mitgearbeitet, wie ein Praktikant. Das hat mir Einblicke in den Arbeitsalltag vor Ort gebracht.

 

Du hast dich von Anfang an sehr für Diversität eingesetzt: zum Beispiel für interkulturelle und interreligiöse Öffnung. Was hat dich dazu bewegt?

Ich hatte das Thema als Vorstand des Diakonischen Werkes Hamburg schon verfolgt: Da habe ich eine muslimische Kollegin in der Schwangerschaftsberatung eingestellt. Und plötzlich kamen ganz viele muslimische Frauen in die Beratung, die vorher nicht gekommen waren. Das war eine prägende Erfahrung. Damals war das noch revolutionär und ich wurde hier in Bielefeld dann auch etwas skeptisch beäugt, heute ist das zum Glück überstanden und alltäglicher geworden.

 

Es lag dir auch immer am Herzen, Frauen zu fördern…

Ja. Genderfragen und Gendergerechtigkeit waren auch schon immer eines meiner Themen. Ich fand mich hier vor allem auf Verbandsebene in reinen Männerrunden wieder, das war irritierend für mich. Heute hat sich das im Johanneswerk verändert: In der Führungsebene haben wir eine 50:50 Quote erreicht. Und auch in der Geschäftsführung ist nun endlich eine Frau dabei. Insgesamt habe ich aktuell aber eher das Gefühl, dass es gesellschaftlich einen Rückschritt gibt: Vor allem in den großen Industrieunternehmen sind Frauen immer noch völlig unterrepräsentiert.

 

Wenn du etwas im Johanneswerk ändern könntest, was wäre das?

Ich würde ändern, dass das „Du“ hier noch nicht so richtig selbstverständlich geworden ist. Dann fände ich es schön, wenn es weniger Regeln und Genehmigungsvorbehalte gäbe. In so einem großen Unternehmen lässt es sich nicht vermeiden, dass es Hierarchien und Strukturen gibt, aber ein bisschen mehr Freiheit würde gut tun und das Ganze lockerer machen, denke ich.

 

Wie hat sich die Gesellschaft aus deiner Sicht in den letzten 16 Jahren verändert?

Zum einen ist sie deutlich ich-bezogener geworden, während der Sinn für das Gemeinwohl abnimmt. Des Weiteren wächst demografisch und gesellschaftlich bedingt die Zahl der Menschen, die Unterstützung benötigen, die Zahl potenzieller Mitarbeitender nimmt leider parallel dazu ab. Und drittens: Die Finanzierungswege sozialer Arbeit sind jetzt schon einer dramatischen Lage und nicht zukunftstauglich.

Mit welchen Herausforderungen wird das Johanneswerk, werden soziale Träger generell in den kommenden Jahren konfrontiert sein?
Vor allem mit Personalknappheit. Dann mit mangelnder Refinanzierung. Und darüber hinaus mit nachhaltigem, ökologischem und gerechtem Arbeiten, zunehmend gesellschaftlich schwierigen Verhältnisse sowie der sinnvollen, intensiven Nutzung von KI.

 

Worauf freust du dich jetzt und was wirst du vermissen?
Ich freue mich auf deutlich mehr freie Zeit, darauf, Klavierspielen und Solo-Gesang wieder aufnehmen zu können. Ich freue mich auf mehr Zeit für Enkel. Und auf meine Ämter und Aufgaben in meinem rotarischen Club, die jetzt auf mich zukommen. Vermissen werde ich den täglichen Kontakt mit vielen Menschen, mit denen ich zusammengearbeitet habe, die mir geholfen haben, frisch und beweglich zu bleiben.

 

Du hast deinen Ausstieg lange vorbereitet und geklärt, wer was übernehmen wird. Fällt es dir leicht, die Verantwortung abzugeben?
Ja. Ich habe diese Verantwortung 16,5 Jahre gehabt – das sollte doch reichen, oder? Und es erleichtert ja auch. Mir war wichtig, dass die Prozesse hierfür rechtzeitig starten. Dafür habe ich intensiv mit gesorgt, mich zugleich aber aus allen inhaltlichen Entscheidungen herausgehalten. Es gibt gute Leute auf allen Ebenen im Werk.

 

Was wünschst du dem Johanneswerk für die nächsten 16 Jahre?
Gute, hilfreiche, diakonische Arbeit zu leisten. Stets genügend Mitarbeitende und ausreichend Geld zu haben. Ein innovativer, wandlungsfähiger Träger zu bleiben.